Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es sagt,
gelten lassen. Nur fragen muss ich: wieviel er nun damit gesagt? Ob er im
geringsten mehr damit gesagt, als, dass das Mitleid unsere Furcht reinige?
Gewiss nicht: und das waere doch nur kaum der vierte Teil der Foderung des
Aristoteles. Denn wenn Aristoteles behauptet, dass die Tragoedie Mitleid
und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer sieht nicht,
dass dieses weit mehr sagt, als Dacier zu erklaeren fuer gut befunden? Denn,
nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe, muss
der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschoepfen will, stueckweise
zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische
Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und
4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen koenne und wirklich
reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch
diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Haelfte erlaeutert. Denn
wer sich um einen richtigen und vollstaendigen Begriff von der
Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemueht hat, wird finden, dass
jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schliesset. Da
naemlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als
in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei
jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits
ein Extremum findet, zwischen welchem sie innestehet: so muss die Tragoedie,
wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis
des Mitleids zu reinigen vermoegend sein; welches auch von der Furcht zu
verstehen. Das tragische Mitleid muss nicht allein, in Ansehung des Mitleids,
die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fuehlet, sondern auch
desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muss nicht
allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich
ganz und gar keines Ungluecks befuerchtet, sondern auch desjenigen, den ein
jedes Unglueck, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in
Angst setzet. Gleichfalls muss das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht,
dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die
tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids. Dacier aber, wie gesagt, hat
nur gezeigt, wie das tragische Mitleid unsere allzugrosse Furcht maessige: und
noch nicht einmal, wie es dem gaenzlich
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