ntstehen koennen?--Man sieht
hieraus, wie gar ungeschickt der groesste Teil der Kunstrichter die
tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken
und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Fuer
wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch
ziehet? Gewiss nicht fuer sich, sondern fuer den Aegisth, dessen Erhaltung
man so sehr wuenschet, und fuer die betrogne Koenigin, die ihn fuer den
Moerder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust ueber das
gegenwaertige Uebel eines andern Mitleiden nennen: so muessen wir nicht nur
das Schrecken, sondern alle uebrige Leidenschaften, die uns von einem
andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden."--
----Fussnote
[1] Im 13. Kapitel der "Dichtkunst".
[2] Hr. S. in der Vorrede zu S. "Komischen Theater", S. 35.
[3] "Philosophische Schriften" des Herrn Moses Mendelssohn, zweiter
Teil, S. 4.
----Fussnote
Fuenfundsiebzigstes Stueck
Den 19. Januar 1768
Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, dass uns duenkt,
ein jeder haette sie haben koennen und haben muessen. Gleichwohl will ich
die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht
unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten
Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu
danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch
Aristoteles im ganzen ungefaehr empfunden haben: wenigstens ist es
unleugbar, dass Aristoteles entweder muss geglaubt haben, die Tragoedie
koenne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust
ueber das gegenwaertige Uebel eines andern erwecken, welches ihm schwerlich
zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften ueberhaupt, die uns von einem
andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.
Denn er, Aristoteles, ist es gewiss nicht, der die mit Recht getadelte
Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht
hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch uebersetzt. Er spricht von
Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht
ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Uebel eines
andern, fuer diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus
unserer Aehnlichkeit mit der leidenden Person fuer uns selbst entspringt;
es ist die Furcht, dass die Ungluecksfaelle, die wir ueber
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