e Ebenmass und
Verhaeltnis, welches man an einer menschlichen Figur erwartet, in acht.
Und das heisst denn die Natur schildern, welche uns kein Beispiel von
einem Menschen gibt, der ganz und gar in eine einzige Leidenschaft
verwandelt waere. Keine Metamorphosis koennte seltsamer und unglaublicher
sein. Gleichwohl sind Portraete, in diesem tadelhaften Geschmacke
verfertiget, die Bewunderung gemeiner Gaffer, die, wenn sie in einer
Sammlung das Gemaelde, z.E. eines Geizigen (denn ein gewoehnlicheres gibt
es wohl in dieser Gattung nicht), erblicken und nach dieser Idee jede
Muskel, jeden Zug angestrenget, verzerret und ueberladen finden,
sicherlich nicht ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung darueber zu
aeussern.--Nach diesem Begriffe der Vortrefflichkeit wuerde Le Bruns Buch
von den Leidenschaften eine Folge der besten und richtigsten moralischen
Portraete enthalten: und die Charaktere des Theophrasts muessten, in Absicht
auf das Drama, den Charakteren des Terenz weit vorzuziehen sein.
Ueber das erstere dieser Urteile wuerde jeder Virtuose in den bildenden
Kuensten unstreitig lachen. Das letztere aber, fuerchte ich, duerften wohl
nicht alle so seltsam finden; wenigstens nach der Praxis verschiedener
unserer besten komischen Schriftsteller und nach dem Beifalle zu
urteilen, welchen dergleichen Stuecke gemeiniglich gefunden haben. Es
liessen sich leicht fast aus allen charakteristischen Komoedien Beispiele
anfuehren. Wer aber die Ungereimtheit, dramatische Sitten nach abstrakten
Ideen auszufuehren, in ihrem voelligen Lichte sehen will, der darf nur Ben
Jonsons 'Jedermann aus seinem Humor'[2] vor sich nehmen; welches ein
charakteristisches Stueck sein soll, in der Tat aber nichts als eine
unnatuerliche und, wie es die Maler nennen wuerden, harte Schilderung einer
Gruppe von fuer sich bestehenden Leidenschaften ist, wovon man das Urbild
in dem wirklichen Leben nirgends findet. Dennoch hat diese Komoedie immer
ihre Bewunderer gehabt; und besonders muss Randolph von ihrer Einrichtung
sehr bezaubert gewesen sein, weil er sie in seinem 'Spiegel der Muse'
ausdruecklich nachgeahmet zu haben scheint.
Auch hierin, muessen wir anmerken, ist Shakespeare, so wie in allen andern
noch wesentlichern Schoenheiten des Drama, ein vollkommenes Muster. Wer
seine Komoedien in dieser Absicht aufmerksam durchlesen will, wird finden,
dass seine auch noch so kraeftig gezeichneten Charaktere, den groessten Teil
ihrer Rollen durch, sich vollkomme
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