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so pflegte er sich damit zu verantworten, dass er die Menschen so
schildere, wie sie sein sollten, Euripides aber so, wie sie waeren:
[Greek: Sophochlaes ephae, autos men oious dei poiein, Euripidaes de oioi
eisi].[6] Der Sinn hiervon ist dieser: Sophokles hatte, durch seinen
ausgebreiteten Umgang mit Menschen, die eingeschraenkte enge Vorstellung,
welche aus der Betrachtung einzelner Charaktere entsteht, in einen
vollstaendigen Begriff des Geschlechts erweitert; der philosophische
Euripides hingegen, der seine meiste Zeit in der Akademie zugebracht
hatte und von da aus das Leben uebersehen wollte, hielt seinen Blick zu
sehr auf das Einzelne, auf wirklich existierende Personen geheftet,
versenkte das Geschlecht in das Individuum und malte folglich, den
vorhabenden Gegenstaenden nach, seine Charaktere zwar natuerlich und wahr,
aber auch dann und wann ohne die hoehere allgemeine Aehnlichkeit, die zur
Vollendung der poetischen Wahrheit erfodert wird.[7]
Ein Einwurf stoesst gleichwohl hier auf, den wir nicht unangezeigt lassen
muessen. Man koennte sagen, 'dass philosophische Spekulationen die Begriffe
eines Menschen eher abstrakt und allgemein machen, als sie auf das
Individuelle einschraenken muessten. Das letztere sei ein Mangel, welcher
aus der kleinen Anzahl von Gegenstaenden entspringe, die den Menschen zu
betrachten vorkommen; und diesem Mangel sei nicht allein dadurch
abzuhelfen, dass man sich mit mehrern Individuis bekannt mache, als worin
die Kenntnis der Welt bestehe; sondern auch dadurch, dass man ueber die
allgemeine Natur der Menschen nachdenke, so wie sie in guten moralischen
Buechern gelehrt werde. Denn die Verfasser solcher Buecher haetten ihren
allgemeinen Begriff von der menschlichen Natur nicht anders als aus einer
ausgebreiteten Erfahrung (es sei nun ihrer eignen, oder fremden) haben
koennen, ohne welche ihre Buecher sonst von keinem Werte sein wuerden.' Die
Antwort hierauf, duenkt mich, ist diese. Durch Erwaegung der allgemeinen
Natur des Menschen lernet der Philosoph, wie die Handlung beschaffen sein
muss, die aus dem Uebergewichte gewisser Neigungen und Eigenschaften
entspringet: das ist, er lernet das Betragen ueberhaupt, welches der
beigelegte Charakter erfodert. Aber deutlich und zuverlaessig zu wissen,
wieweit und in welchem Grade von Staerke sich dieser oder jener Charakter,
bei besondere Gelegenheiten, wahrscheinlicherweise aeussern wuerde, das ist
einzig und allein eine Frucht von uns
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