dass er die Form dem Wesen nachgesetzet hat, so versorge
euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stuecken, wo das Wesen der Form
aufgeopfert ist, und ihr seid belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads
"Kreusa", wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem
alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin
ausfragt, immerhin gefalle sie euch besser, als des Euripides "Ion": und
ich werde euch nie beneiden!
Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen
Dichtern nennet, so sahe er nicht bloss darauf, dass die meisten seiner
Stuecke eine unglueckliche Katastrophe haben; ob ich schon weiss, dass viele
den Stagiriten so verstehen. Denn das Kunststueck waere ihm ja wohl bald
abgelernt; und der Stuemper, der brav wuergen und morden und keine von
seinen Personen gesund oder lebendig von der Buehne kommen liesse, wuerde
sich ebenso tragisch duenken duerfen, als Euripides. Aristoteles hatte
unstreitig mehrere Eigenschaften im Sinne, welchen zufolge er ihm diesen
Charakter erteilte; und ohne Zweifel, dass die eben beruehrte mit dazu
gehoerte, vermoege der er naemlich den Zuschauern alle das Unglueck, welches
seine Personen ueberraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer
auch dann schon mit Mitleiden fuer die Personen einzunehmen, wenn diese
Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen.
--Sokrates war der Lehrer und Freund des Euripides; und wie mancher
duerfte der Meinung sein, dass der Dichter dieser Freundschaft des
Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichtum von schoenen
Sittenspruechen, den er so verschwendrisch in seinen Stuecken ausstreuet.
Ich denke, dass er ihr weit mehr schuldig war; er haette, ohne sie, ebenso
spruchreich sein koennen; aber vielleicht wuerde er, ohne sie, nicht so
tragisch geworden sein. Schoene Sentenzen und Moralen sind ueberhaupt
gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten
hoeren; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den
Menschen und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein;
in allen die ebensten und kuerzesten Wege der Natur ausforschen und lieben;
jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem
Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was
ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Gluecklich der Dichter, der so
einen Freund hat--und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate
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