Die Vegetation aller Waelder leidet unter der gegenseitigen Beschattung;
der Kampf ums Licht waltet im nordamerikanischen Walde ebenso, wie im
tropischen, und doch hat er nur in letzterem auffallende Anpassungen
hervorgerufen, sodass diese den physiognomischen Unterschied beider Waelder
hauptsaechlich bedingen. Eine Naturgeschichte des tropischen Urwalds wird
sich daher in erster Linie mit diesen Anpassungen zu beschaeftigen haben.
Bei keiner der biologischen Pflanzengruppen oder Genossenschaften, in
welche die Vegetation des Urwalds eingetheilt werden kann, ist der
Einfluss des Kampfes ums Licht so ausgepraegt, wie bei den Epiphyten. Diese
erscheinen daher besonders geeignet, uns in die Eigenthuemlichkeiten der
Vegetation des tropischen Urwaldes und die Existenzbedingungen in
demselben einzufuehren, die Entwickelung seiner Bestandtheile, die Ursachen
seiner gegenwaertigen Physiognomie unserem Verstaendniss naeher zu bringen.
Es kommen zwar einige phanerogamischen Epiphyten im suedlichen Theil des
nordamerikanischen Waldgebiets vor. Dieselben sind aber im Gegensatz zu
den Gewaechsen, auf oder ueber welchen sie leben, saemmtlich tropische
Colonisten und daher eher geeignet, die Kluft zwischen dem tropischen und
dem nordamerikanischen Urwald zu vertiefen, als dieselbe auszufuellen.
Meine erste Bekanntschaft mit den Epiphyten ruehrt von einer nur
zweiwoechentlichen Excursion nach Florida im Fruehjahr *1881*. Spaeter habe
ich sie in Westindien und Venezuela (*1881*, *1883*), zuletzt in Brasilien
(*1885*) einem genaueren Studium unterworfen. Die auf meinen ersten Reisen
gewonnenen Ergebnisse wurden *1884* im Botanischen Centralblatt (Bau und
Lebensweise der Epiphyten Westindiens) veroeffentlicht; ich hatte damals
wesentlich die Anpassungen untersucht, durch welche die Epiphyten auf
Baumaesten Wasser und Mineralstoffe erhalten. Diese Fragen bilden wiederum
einen Theil der vorliegenden Arbeit, wurden aber durch neue Beobachtungen
wesentlich erweitert.
Wenn ich in dieser Arbeit eine relative Vollstaendigkeit erreichen konnte,
so habe ich es vor Allem der vielseitigen Unterstuetzung durch Fachgenossen
und Freunde zu verdanken. Ganz besonders moechte ich meinen Dank
aussprechen dem frueheren General-Forstinspektor in Britisch-Indien, Dr.
D. BRANDIS, der mir aus seinen reichen Erfahrungen sehr wichtige
Mittheilungen ueber das Vorkommen und die Lebensweise der Epiphyten in
Ostindien machte und ausserdem mir sein grosses Herbarium
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