Wahrheit, denn alles andere ist nur gut durch sie. Das gilt von allen
Wahrheiten. Einer besondren Beachtung beduerfen die sittlichen und
religioesen Wahrheiten, die Wahrheiten, welche, allgemeiner gesprochen,
unser praktisches Verhalten und unsre persoenlichen Beziehungen regeln. Sie
muessen natuerlich den Willen in ganz andrer Weise beeinflussen und das
Gemuet in Anspruch nehmen und doch bleiben gerade sie haeufig lediglich
blosse Kopfwahrheiten. Die mit ihnen verbundene Einsicht ist natuerlich
auch ein Verstandesakt. Sitte und Gewohnheit bringen es mit sich, dass man
ihnen die Anerkennung im Denken und Reden nicht versagt. Diese Anerkennung
wird als etwas Selbstverstaendliches betrachtet. Aber sie ist auch
lediglich eine Anerkennung des Verstandes, die diesen Wahrheiten in
gedankenloser Weise entgegengebracht wird, ohne dass der Wille und das
Herz davon irgendwie beruehrt werden, selbst wenn das Leben des
Anerkennenden den Wahrheiten durchaus widerspricht. Der Widerspruch
zwischen den Gewohnheiten des Lebens, wie sie im Handeln sich kundgeben
und zwischen der ebenfalls im Denken und Reden zur Gewohnheit gewordenen
Anerkennung kommt gar nicht mehr zum Bewusstsein. Die Gewohnheit auf
beiden Seiten laesst eine Reflexion gar nicht aufkommen und alles als
selbstverstaendlich erscheinen. Das ist die Lage der meisten Menschen, die
im Reden und Denken an der ihnen anerzogenen Moral und Religion
festhalten, obgleich die Grundsaetze dieser Moral und Religion auf ihre
Gesinnung, ihr Leben und Handeln gar keinen Einfluss ausueben. Ihre Moral
und Religion ist lediglich zur Kopfwahrheit geworden. Wie oft werden
Grundsaetze im Denken und Reden als selbstverstaendlich anerkannt und doch
im Leben und Handeln ohne weiteres, wir muessen sagen gedankenlos,
unbewusst, mit Fuessen getreten. Wer verurteilt in seinem Denken und Reden
nicht den Egoismus, und wer zieht das zuerst deutlich, dann immer weniger
deutlich, zuletzt gar nicht mehr als minderwertig erkannte eigene Ich
nicht dem fremden vor?
Vierter Abschnitt.
Umfang unsres Wissens.
Neunzehnte Untersuchung.
Schranken unsres Erkennens.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass der Gegenstand und das Ziel des
Erkennens nichts andres sein kann als die Wahrheit in ihrem ueberzeitlichen
Charakter, der allein ihre Allgemeingueltigkeit fuer alle Denkenden
verbuergt. Aber es fragt sich, ob die thatsaechliche Beschaffenheit der
Erkenntnisvorgaenge dieser Aufgabe in jeder Hinsicht a
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