ben
imstande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich
urteile bloss so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in
welchen sich das Ruehrende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in
dem Trauerspiele und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort.
Den vierten Abend (montags, den 27. v. M.) ward ein neues deutsches
Original, betitelt "Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe",
aufgefuehret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt,
dass bereits zwei andere Stuecke von ihm den Beifall des dortigen Publikums
erhalten haetten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwaertigen zu
urteilen, muessen sie nicht ganz schlecht sein.
Die Hauptzuege der Fabel und der groesste Teil der Situationen sind aus der
"Neuen Heloise" des Rousseau entlehnet. Ich wuenschte, dass Herr Heufeld,
ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den
"Briefen, die neueste Literatur betreffend"[1] gelesen und studiert
haette. Er wuerde mit einer sicherern Einsicht in die Schoenheiten seines
Originals gearbeitet haben und vielleicht in vielen Stuecken gluecklicher
gewesen sein.
Der Wert der "Neuen Heloise" ist, von der Seite der Erfindung, sehr
gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung
faehig. Die Situationen sind alltaeglich oder unnatuerlich, und die wenig
guten so weit voneinander entfernt, dass sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in
den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzuegen nicht zwingen lassen.
Die Geschichte konnte sich auf der Buehne unmoeglich so schliessen, wie sie
sich in dem Romane nicht sowohl schliesst, als verlieret. Der Liebhaber
der Julie musste hier gluecklich werden, und Herr Heufeld laesst ihn
gluecklich werden. Er bekoemmt seine Schuelerin. Aber hat Herr Heufeld auch
ueberlegt, dass seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist?
Doch Julie des Rousseau oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst
eine Person ist, die interessierst. Aber eben das ist sie nicht; sie ist
nichts als eine kleine verliebte Naerrin, die manchmal artig genug
schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schoene Stelle im Rousseau
besinnet. "Julie", sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwaehnet
habe, "spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist anfangs ein
schwaches und sogar etwas verfuehrerisches Maedchen und wird zuletzt ein
Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals
erdichtet hat
|