ubt Ihr im Ernst, dass die Erinnerung
bei dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen
hat, lebhafter sein werde, als der sinnliche Eindruck, den eine
wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja
meine Elisabeth; und seine eigene Augen ueberzeugen ihn, dass es nicht Eure
achtundsechzigjaehrige Elisabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras
mehr glauben, als seinen eignen Augen?"--
So ungefaehr koennte sich auch der Dichter ueber die Rolle des Essex erklaeren.
"Euer Essex im Rapin de Thoyras", koennte er sagen, "ist nur der Embryo
von dem meinigen. Was sich jener zu sein duenkte, ist meiner wirklich. Was
jener, unter gluecklichem Umstaenden, fuer die Koenigin vielleicht getan
haette, hat meiner getan. Ihr hoert ja, dass es ihm die Koenigin selbst
zugesteht; wollt Ihr meiner Koenigin nicht ebensoviel glauben, als dem
Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und grosser, aber stolzer
und unbiegsamer Mann. Eurer war in der Tat weder so gross, noch so
unbiegsam: desto schlimmer fuer ihn. Genug fuer mich, dass er doch immer
noch gross und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe
seinen Namen zu lassen."
Kurz: die Tragoedie ist keine dialogierte Geschichte; die Geschichte ist
fuer die Tragoedie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir
gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der
Geschichte mehrere Umstaende zur Ausschmueckung und Individualisierung
seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur dass man ihm hieraus
ebensowenig ein Verdienst, als aus dem Gegenteile ein Verbrechen mache!
Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr
bereit, das uebrige Urteil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben.
"Essex" ist ein mittelmaessiges Stueck, sowohl in Ansehung der Intrige als
des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu
machen; ihn mehr aus Verzweiflung, dass er der ihrige nicht sein kann, als
aus edelmuetigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigungen und Bitten
herabzulassen, auf das Schafott zu fuehren: das war der ungluecklichste
Einfall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl
haben musste. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Uebersetzung
ist er oft kriechend geworden. Aber ueberhaupt ist das Stueck nicht ohne
Interesse und hat hier und da glueckliche Verse, die aber im Franzoesischen
gluecklicher sind als im Deutschen. "Die
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